Stella Aureus

Praxis für ganzheitliche Gesundheit und Wellness

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Leseprobe

Ein Auszug aus dem Kapitel Seelenspiegel

Wir fuhren durch die Stadt, bis wir vor einem rosafarbenen Gebäude hielten, bei welchem es sich um die freigeschliffene Perlmuttschicht einer gigantischen Muschel handelte. Über eine Treppe aus Korallen betraten wir das Innere. Es war ein faszinierender Anblick. Alles strahlte in silbernem Glanz von dem Licht, das an den perlmutternen Wänden reflektiert wurde.
Die Lichtquelle befand sich in der Mitte des Gebäudes. Es war eine leuchtende Perle, die mit silbernen Bändern im Zentrum des Saales gehalten wurde. An den Wänden verliefen Emporen. Auch sie bestanden aus lebenden Korallen. Unter der Perle stand eine Gruppe Meeresbewohner, bei denen es sich ausschließlich um Frauen handelte.
Als wir den Saal betraten, wurden sie still und ich spürte, wie sie mich begutachteten. Ich blieb vor ihnen stehen. Eine ältere Frau mit langem schwarzem Haar, durch welches sich silberne Strähnen zogen, trat aus der Gruppe auf mich zu. Sie trug ein olivgrünes Gewand. Der Stoff, aus dem es gewebt war, bestand aus etwas, das Seide ähnelte, doch schmiegte es sich bei jeder ihrer Bewegungen um ihren Körper, als sei es ein Teil davon. Schweigend wanderte ihr Blick über meine Gestalt.

„Weißt du, wer ich bin?“, fragte sie mich. Ihre Worte hallten durch das Wasser. Es hörte sich so anders an als Worte, die an Land gesprochen wurden.
Ich schüttelte den Kopf. Selbst im Hinblick auf ihr fortgeschrittenes Alter war ihre Haut faltenlos. Niemals zuvor war mir eine so schöne Frau begegnet.
„Ich bin die Okeanide Pleione. Tochter der Tethys und Mutter der Plejaden.“ Während sie sprach, blieb ihr Ausdruck regungslos. „Hast du eine Ahnung, warum du hier bist?“
Ich blickte mich um. Weshalb ich hierhergebracht worden war? Diese Frage hatte ich mir selbst bereits gestellt. Ich schüttelte abermals den Kopf.
„Der Mann, der einer meiner Töchter einst ihres Herzens beraubte, teilte mir mit, er habe jemanden gefunden, der einen Teil ihrer Kräfte besäße. Allerdings handle es sich um einen Menschen und kein Geschöpf unseres Reiches. Wie ist es dir also gelungen, den Schutz meiner Tochter zu brechen?“
Ich erinnerte mich an den Wunsch des Herrschers des Himmels, ihm dieses alte Buch zu öffnen. Ich hob meine Hand und bedeutete ihr, dass ich diese lediglich darauf gelegt hatte. Mit noch immer unverändertem Ausdruck beobachtete Pleione meine Deutungen. Als ich geendet hatte, kam sie näher und blickte mir in die Augen.
„Es gibt eine Möglichkeit sicherzugehen“, sagte sie an die anderen gerichtet. „Folge mir.“
Neugierig kamen die übrigen Nixen hinter uns her. Wir schwammen eine der Treppen zu der untersten Empore hinauf und weitere, bis wir auf der obersten anlangten. Dort befand sich eine Tür, die zu einer kleinen Kammer führte.
Pleione zog einen großen Schlüssel aus ihrem Gewand und öffnete sie. In dem Raum dahinter stand ein Becken. Es sah aus wie ein Taufbecken, welche in alten Kirchen zu finden waren. Dieses war aus weißen glatt polierten Korallen gefertigt und mit Blütenblättern aus roten Korallen verziert. Pleione trat um das Becken herum. Zwei der Nixen hoben die bronzefarbene Abdeckung vom Rand des Beckens und reihten sich danach in den Kreis ein, welchen die anderen bereits um uns geschlossen hatten.

„Was hier vor uns steht, ist unser heiligster Besitz. Es handelt sich um einen Seelenspiegel. Jeder, der dort hineinblickt, gewahrt die Seele, welche ihm innewohnt.“
Ich trat an das Becken heran. In ihm befand sich eine silberne Flüssigkeit. Ich sah mich und meine Umgebung tatsächlich wie in einem Spiegel. Mein Gesicht war hier unter Wasser umrahmt von meinem roten Haar wie von einem Strahlenkranz.
Während ich mein Spiegelbild betrachtete, fragte mich Pleione: „Was siehst du?“
Ich blickte zu ihr auf. Mit einer Hand deutete ich auf mich.
„Nur dein Spiegelbild?“ In ihrem Blick zeigte sich Enttäuschung. „Wie auch immer es dir gelungen ist, das Siegel zu öffnen, es ist geschehen. Wir sollten uns jetzt darum kümmern.“ Sie verließ den Raum, gefolgt von den Nixen.
Als sie gegangen waren, blickte ich noch einmal in die Augen meines Spiegelbildes. Wer war diese Frau, die mir entgegenblickte? Sie war mir eine Fremde. Warum sah ich nur mein Gesicht? Andererseits, wen hatte ich erwartet? Sie hatten jemanden erwartet, der ich offensichtlich nicht war? Aber wer war ich?
Ich wollte den anderen gerade folgen, als hinter mir etwas metallisch Klingendes zu Boden fiel. Als ich mich umdrehte und zu dem Becken zurückblickte, lag neben selbigem ein kleiner Gegenstand auf dem Boden. Ich schwamm zu diesem und hob ihn auf. In meinen Händen lag ein goldener Ring. Wem mochte er gehören und wo war er hergekommen? Konnte ihn eine der Nixen verloren haben? Aber dann wäre er bestimmt vorhin bereits jemandem aufgefallen. Ich steckte den Ring ein. Wenn ihn jemand vermisste, konnte ich immer noch sagen, dass ich ihn gefunden hatte.

Wir versammelten uns alle unten in der großen Halle. Mittlerweile waren auch andere Meeresbewohner eingetroffen. Suchend blickte ich mich um. Eine der Nixen winkte mir zu und ich schwamm zu ihnen.
„Es findet nun eine Beratung statt unter allen Okeaniden der Meere. Sie besprechen gerade, welche weiteren Schritte sie planen in Anbetracht der vergangenen Ereignisse“, erklärte sie mir.
Ich nickte. Was würden sie wohl beschließen? Und vor allem: Was würde mit mir geschehen?
Die Okeanide Pleione eröffnete die Besprechung. „Ehrenwerte Okeaniden, wir haben uns alle hier versammelt, weil der Herrscher des Himmels zurückgekehrt ist. Es ist ihm bereits während seines kurzen Aufenthaltes auf der Erde gelungen, das Buch des Lebens in seinen Besitz zu bringen.“
Ein Raunen erhob sich und eine der Okeaniden ergriff das Wort. „Aber Pleione, er kann es doch nicht öffnen. Was nützt es ihm also?“
Obwohl Pleione mit fester Stimme antwortete, lag in ihrem Blick ein Ausdruck von Sorge. „Es ist ihm gelungen, den Bann, der es schützte, zu lösen.“
Nun redeten die Versammelten lautstark durcheinander und ich sah Unverständnis, Wut und Furcht in ihren Gesichtern.
„Wie konnte das geschehen?“, fragte eine andere der Okeaniden. „Es wurde immerhin eigens von deinen Töchtern versiegelt.“
„Es ist ihm gelungen, meine Töchter an seinen Willen zu binden. Somit gelang es ihm, die ersten sechs Siegel zu öffnen. Für das letzte benutzte er einen Menschen.“ Pleione deutete auf mich.
Neugierig musterten mich die Nixen.
„Wie kann ein Mensch eines der Siegel öffnen?“, wollten die Okeaniden wissen.
„Das wissen wir bisher auch nicht, doch ist der Herrscher des Himmels nun in der Lage, das in dem Buch des Lebens enthaltene Wissen zu nutzen. Es ist also nur eine Frage der Zeit, wann er angreifen wird. Daher bitte ich euch um eure Hilfe, gemeinsam eine Streitkraft aus allen Meeren zusammenzuziehen. Der Herr des Windes hat sein Erbe angetreten. Diesem neuen Herrscher des Himmels kann in gegenwärtigen Zeiten niemand den Abbruch der totalen Vernichtung befehlen. Wenn es uns misslingt, ihn aufzuhalten, bedeutet dies nicht nur das Ende der menschlichen Zivilisation, sondern das aller Völker dieses Planeten.“

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